Ibn Khaldûn: Die Muqaddima. Betrachtungen zur Weltgeschichte

Artikel vom 30. Mai 2013 zuletzt aktualisiert am 1. Januar 2016

Ibn Khaldûn (1332-1406), der berühmte arabische Historiker, und Hafis (1326-1390), der anmutige persische Dichter, Goethes östlicher „Zwilling“, sind zweifellos zwei der bekanntesten Gestalten aus dem spätmittelalterlichen Islam, verbunden überdies durch ihre Erwartung, Timur könne der ersehnte neue Staatsmann der islamischen Welt sein, ihr Erneuerer – eine Hoffnung, die bei beiden noch zu Lebzeiten, nicht zuletzt durch ihre persönliche Begegnung mit dem grausam-genialen Welteroberer, zerschmolz.

Aus der Neuen Orientalischen Bibliothek
Aus der Neuen Orientalischen Bibliothek

Hafis schuf ein bis heute gültiges und von vielen geliebtes Spitzenwerk im Bereich der Lyrik, Ibn Khaldûn ein solches im Bereich der Historiographie, das ebenfalls noch immer hohes Ansehen genießt und nichts von seiner Bedeutung, seiner Originalität eingebüßt hat.

Erkannt wurde diese Bedeutung allerdings erst in der Neuzeit, und das nicht im Orient, sondern im Westen. Hier wurde seine Muqaddima erstmals ediert und ins Französische übersetzt, in einer dreibändigen noch immer wertvollen Ausgabe von Etienne Quatremère (1858). Zahlreiche Übersetzungen und weitere Editionen folgten, darunter die bis heute unübertroffene Standard-Übersetzung ins Englische von Franz Rosenthal. Aber auch Übersetzungen ins Französische folgten; bemerkenswert, dass eine dieser Übersetzungen von Vincent Monteil stammt, der auch Hafis ins Französische übersetzt hat. Auf Deutsch gab es bisher nur die Auswahl von Annemarie Schimmel (1951). Auch Gieses Übertragung ist nur eine Auswahl, die etwa der Hälfte des Ganzen entspricht. Beide, Schimmel und Giese, haben das von ihnen (durchaus unterschiedlich) Weggelassene jeweils zusammengefasst.

Muqaddima bedeutet “Einleitung“, eigentlich sogar nur „Vorwort“ (wörtlich „die Vorbereitende“). Quatremêre übersetzte den Titel mit Prolégomènes, – auf jeden Fall dürfte es eine der längsten und gehaltvollsten „Einleitungen“ sein, die die Geschichtswissenschaft kennt. Westliche Historiker haben denn auch mit Lob nicht gespart. Sarton, der berühmte amerikanische Wissenschaftshistoriker, ging sogar so weit, ihn als „den größten Historiker des Mittelalters, (…) einen der ersten Geschichtsphilosophen“ und einen Vorläufer von Machiavelli, J. Bodin, G. Vico und A. Comte zu bezeichnen. Vollends mit superlativischem Überschwang urteilte Arnold Toynbee: “In the Prolegomena to his Universal History he has conceived and formulated a philosophy of history which is undoubtedly the greatest work of its kind that has ever been created by any mind in any time or place.” (A Study of History, 1934-54, III, 322)

Ibn Khaldûns “Einleitung” versteht sich als Begründung einer neuen Wissenschaft. In der Tat entwickelt er eine Geschichtstheorie, aber nicht nur das, er lehrt auch, wie man Geschichte zu sehen, zu beschreiben, kurz, wie man als Historiker zu verfahren hat. Er zitiert und kritisiert gleichzei8tg bekannte Historiker vor ihm wie at-Tartûhî, und vor allem al-Mas`ûdî, und erweist sich auch sonst als vielseitig belesen und gelehrt. In Ansätzen ist seine „Eilnleitung“ auch eine Geschichte der Geschichtsschreibung im Islam. Kein Wunder daher, dass Rosenthal, wohl schon in Auseinandersetzung mit Ibn Khaldûn, sein Standardwerk über Geschichtsschreibung im Islam als „A History of Muslim Historiography“ (Leiden 1952) verfasst hat. Die erste Auflage seiner Übersetzung erschien 1958.

Ibn Khaldûns Geschichtstheorie beruht im Kern auf wenigen Begriffen, es sind dies die folgenden: badâwa = Beduinentum, Nomadenleben; hadâra= Sesshaftigkeit, urbanes Leben; `umrân = Kultur, Zivilisation, und, am wichtigsten von allem, `asabîiya, was Giese im Anschluss an Hellmut Ritters wichtigen Aufsatz „Irrational Solidarity Groups“ (Oriens 1/1948 1-44) , mit „(Gruppen-)Solidarität“ bzw. „Solidaritätsgruppe“ übersetzt hat. Bei Annemarie Schimmel hieß es noch „Gemeingefühl“. Das aggressive, ja kämpferische Moment kommt darin freilich nicht zum Ausdruck. Ich habe daher in meinem Buch „Allmacht und Mächtigkeit“ mit „Kampfgeist“ übertragen, wobei dann allerdings das Moment der Solidarität auf der Strecke bleibt ¹.

Ibn Khaldûn ist Rationalist, warnt vor irrtümlichen Schlussfolgerungen, die auf falschen Prämissen beruhen. Gleichzeitig ist er frommer Muslim. Sein Werk ist durchtränkt von Koranzitaten, jeder kurze Abschnitt endet mit einem solchen oder einer Feststellung wie „Gott weiß es besser.“ Sein Text zeigt also, wie weit die Islamisierung des Denkens selbst bei Intellektuellen in seiner Zeit gediehen war. Seine Muqaddima wurde ihm, so ist er überzeugt, von Gott „inspiriert (wa-nahnu alhamanâ Llâhu ilâ dhâlika ilhâman – Qatremère I,66,10)

Dass die Entstehung des Islam nicht in seine zyklische Theorie passt, gibt Ibn Khaldun zu und führt es auf das direkte Eingreifen Gottes zurück. Eine `asabiya macht aber doch auch im Islam den Anfang, und immer neue mit „Kampfgeist“ aufgeladene Gruppensolidarität sorgte für Bewegung – bis hin zum „arabischen Frühling“.

Alma Gieses Werk ist etwa doppelt so umfangreich wie Annemarie Schimmels. Sie bietet zudem ein umfangreiches Glossar, leider ohne Seitenverweise; das daran angeschlossene Register ist viel zu kurz. Auch das Inhaltsverzeichnis ist stark ausgedünnt – nur eineinhalb Seiten –, wiederum im Unterschied zu Schimmel; dort sechseinhalb Seiten.

Die Übersetzung ist flüssig, gut lesbar, in tadellosem Deutsch. Alma Giese hat ja, daran sei hier zum Schluss erinnert, schon seit Jahren immer wieder schwierige arabische Texte ins Deutsche übertragen und sich einen Namen als kompetente Übersetzerin gemacht. Den vorangegangenen Titeln ² fügt sich der neue würdig und ebenbürtig an die Seite.

Prof. Dr. Johann Christoph Bürgel. Von 1970 bis zu seiner Emeritierung 1995 Professor und Direktor für Islamwissenschaft an der Universität Bern. Ausführliches CV siehe EOTHEN V, S. 296.

¹ vgl. dazu meine Ausführungen in Allmacht und Mächtigkeit. Religion und Welt im Islam, München C.H.Beck 1991, SS. 60 ff. und 164 ff.
² Bücher und Veröffentlichungen von Dr. Alma Giese:
Wasf bei Kusagim: Eine Studie zur beschreibenden Dichtkunst der Abbasidenzeit, (Dissertation 1980), Berlin K.Schwarz 1981
Abd-al-Qadir al-Gilani, Enthüllungen des Verborgenen (Übers.), Köln Al-Kitab 1985
Vier Tieren auch verheißen war, ins Paradies zu kommen. Betrachtungen zur Seele der Tiere im islamischen Mittelalter in Die Seele der Tiere, Hrsg. Friedrich Niewöhmner und Jean L. Seban, Wolfenbütteler Forschungen, Harrassowitz Wiesbaden 2001
Al-Qazwini, Die Wunder de Himmels und der Erde (Übers.), Stuttgart Ed.Erdmann 1988, 2004
Ibn’Arabi, Urwolke und Welt. Mystische Texte des Größten Meisters (Übers.), München C.H.Beck 2002
Ihwan as-safa, Mensch und Tier vor dem König der Dschinnen, Stuttgart Ed.Erdmann 2005

1992 gab Alma Giese zusammen mit J.C.Bürgel – beide enge Freunde der großen alten Dame – die Festschrift für Annemarie Schimmel Gott ist schön und er liebt die Schönheit heraus. Siehe dazu den Beitrag Jahr und Tag: Beck, Bothmer, Majer, Schimmel in dieser Website.

Ibn Khaldun, Die Muqaddima. Betrachtungen zur Weltgeschichte. Aus dem Arabischen übertragen und mit einer Einführung von Alma Giese unter Mitwirkung von Wolfhart Heinrichs, München C.H.Beck 2011 in der Neuen Orientalischen Bibliothek, 541 Seiten Leinen, ISBN 978-3-406-62237-3, 38 €. Auch als E-Book lieferbar.