München und der Orient – Ein faszinierendes Buch

Artikel vom 18. Dezember 2012 zuletzt aktualisiert am 2. März 2013

Selten gibt es in der unendlichen deutschen Buchproduktion echte Sternstunden; dieses Buch kann man in seinem Genre dort einordnen. Dafür gibt es einige Gründe, von denen hier nur wenige beleuchtet werden können. Eine kleine Themenauswahl soll zunächst zeigen, welche Fülle von Informationen auf den 232 Seiten des Buches versammelt ist:

MUC_Frauenkirche
Frauenkirche, München
  • Wohl jeder Münchner kennt die Moriskentänzer; welcher Bewunderer dieser Kunstwerke kennt aber den Grund für ihre merkwürdigen „Verrenkungen“?
  • Macht sich jemand Gedanken darüber, wie man die Form der Hauben auf den Türmen der Frauenkirche und anderer Kuppeln in München erklären kann?
  • Wo hing in der Frauenkirche die „Türkenfahne“, die Max Emanuel stiftete?
  • Warum gibt es in München eine Türkenstraße?
  • Wo geht’s zu Muhammad im Haus des bayerischen Parlaments, im Maximilianeum?
  • Wenig bekannt ist, dass der erste Münchner Tiergarten im Englischen Garten (gleich hinter der heutigen Allianz Hauptverwaltung) lag, doch noch weniger weiß man vom dortigen Affenhaus im maurischen Stil.
  • Die größte Ausstellung Islamischer Kunst, die die Welt je gesehen hat, fand 1910 auf der Theresienhöhe statt; wer aber weiß, was dort sonst noch zu erleben war!
  • In der Bayerischen Staatsbibliothek, die von den – auf gut Münchnerisch – „Vier Heiligen Drei Königen“ (Hippokrates, Aristoteles, Homer und Thukydides) „bewacht“ wird, werden ca. 10 Millionen Medien verwahrt. Darunter sind über 260 000 orientalische Drucke und Handschriften; wie viele kann man davon zu Hause oder unterwegs anschauen?
  • Wieso kann man Ludwig II. den „Sultan von Bayern“ nennen?
  • Wo stand Münchens erste Moschee?
  • Welche Berührungspunkte haben die Künstler des Blauen Reiters mit dem islamischen Orient?
  • Was haben bayerische Luftbildpioniere zum Ersten Weltkrieg beigetragen?
MUC_Tierpark
Tierpark, München

So reiht das Buch einen Fund an den anderen, angefangen von der Gründung der Stadt im 12. Jahrhundert durch Heinrich den Löwen, über die Jahre wo München leuchtete, aber auch über Zeiten, in denen es für Muslime und Juden dunkel wurde, bis in die aktuelle Gegenwart (Gründung des Zentrums für Islam in Europa). Bei den „Fundstücken“ handelt es sich teils um Einzelobjekte, etwa Gebäude, Denkmäler, Gemälde, Fotografien, teils um bisher wenig beachtete Persönlichkeiten oder historische Sachverhalte.

Selbst glückliche Besitzer unserer „Münchner Beiträge zur Geschichte der Islamischen Kunst und Kultur“ – insbesondere EOTHEN IV und V enthalten vertiefende Beiträge ¹) – kommen aus dem Staunen nicht heraus über das, was Orient und Islam in der Bayerischen Landeshauptstadt – und dank bayerischer Könige weit darüber hinaus – hinterlassen, direkt oder indirekt bewirkt haben und heute noch bewirken.

MUC_Bierkrug
Bierkrug

Die „Sammler“ waren zunächst Studierende der Kunstpädagogik an der LMU, die über mehrere Semester auf Spurensuche gingen und vornehmlich die kunsthistorischen Inhalte des Buches zusammentrugen. Neben ihrem Lehrer, Dr. Ernst Wagner, betreute damals auch der Autor Dr. Stefan Jakob Wimmer ²) die Studenten, die 2009 ein erstes Ergebnis ihrer Arbeit im Münchner Rathaus vorstellten. Dass der Autor gewohnt ist, wissenschaftlich zu arbeiten, spürt man auf jeder Seite des Buches. Doch hat Wimmer die seltene Gabe, nicht nur komplexe Sachverhalte allgemein verständlich und spannend darzustellen, sondern auch den Leser für sein Anliegen zu gewinnen, „das ‚Fremde‘, wenn es auf vertrauter Grundlage präsentiert wird, vertrauter“ zu machen.

Wimmer stützt sich natürlich nicht nur auf die Studenten der Kunstpädagogik. Davon zeugt die umfangreiche Bibliographie, in der übrigens viele unserer Gesellschaft nahestehende Fachgelehrte verzeichnet sind, u.a. Hartmut Bobzin, Jürgen Wasim Frembgen, Joachim Gierlichs, Annette Hagedorn, Andrea Lermer, Helga Rebhan, Marcell Restle, Winfried Riesterer, Avinoam Shalem und Eva-Maria Troelenberg. Die Verantwortlichen in der Bayerischen Staatsbibliothek oder im Staatlichen Museum für Völkerkunde München mögen wohl auch für den Zugang zu den vielen Objekten gesorgt haben, die in Abbildungen wiederkehren.

Tabakladen Augustenstraße Ecke Rottmannstraße mit der Ausstattung von 1895
Tabakladen Augustenstraße Ecke Rottmannstraße mit der Ausstattung von 1895

Einen ganz wesentlichen Beitrag zum Buch leistete der türkische Fotograf Ergün Çevik. Ihm ist es gelungen, mit vielen hundert Farbfotos die Texte noch lebendiger und farbiger zu machen; viele Objekte sieht man neu aus ungewohnter Perspektive.

Ein paar Desiderata seien erwähnt: Der Autor hätte bei seinen Kollegen am Institut für den Nahen und Mittleren Osten einiges über dessen – weit ins 19. Jahrhundert zurück reichende – rühmliche Wissenschaftstradition erfahren können – nicht zuletzt über die Rara seiner Bibliothek. Oder er hätte z.B. einen Blick auf den Weltbestand der Sultansbildern werfen können, über den Prof. Majer alles weiß. Einige davon waren zeitweise in Räumen des Cuvilliétheaters „versteckt“, andere tauchen in Gestalt eines der Heiligen Drei Könige in alten Krippen wieder auf.

Auch hätten die Allianz Gastprofessuren für islamische und jüdische Studien sowie die Arbeit des Münchner Zentrums für Islamstudien (MZIS) an der LMU ein paar Worte verdient; ebenso wie unsere Gesellschaft, die sich als die älteste in Deutschland ausschließlich um die Islamische Kunst und Kultur kümmert, ohne – wie z.B. die Deutsch-Türkische und andere – einzelnen Ländern der islamischen Welt nahe zu stehen. Da man jedoch davon ausgehen kann, dass das Buch mindestens eine weitere Auflage erleben wird, besteht noch Hoffnung auf Vervollständigung.

München und der Orient ist ein wahres Kompendium und richtet sich an viele potentielle Leser:

  • Es ist ein sicherer Gewinn für jeden Münchner, dem seine Stadt etwas bedeutet. Auch der bestinformierte Bürger findet darin bestimmt eine Menge ihm bisher nicht bekannter Tatsachen;
  • Die im Buch zusammen getragenen Fakten sind für jeden, der sich für den (islamischen) Orient interessiert – auch wenn er nicht in Bayern wohnt – wissenswert. Viele orientalische Facetten aus der älteren bis hin zur neuesten Geschichte der Bayerischen Landeshauptstadt haben Bedeutung für andere Regionen, oder für die Geschichte der islamischen Kunst und Kultur überhaupt;
  • Bürgern, die aus Ländern der islamischen Welt zu uns kamen oder noch kommen und hier heimisch sind oder werden möchten, wird das Buch helfen, sich in der nicht immer einfachen bayerischen Umwelt und Mentalität zurecht zu finden.
  • Gästen aus dem Orient wird das Buch ein unentbehrlicher „Kulturführer“ sein, wenn sie für einige Zeit in der Landeshauptstadt leben und z. B. in Wirtschaftsunternehmen oder an Hochschulen tätig sind.
  • Für aufgeschlossene „Städtetouristen“ dürfte der Band ein willkommenes Souvenir sein.

Beiden kommt entgegen, dass der Autor eine baldige Übersetzung ins Englische, später auch in andere Sprachen ankündigt.

Münchens Oberbürgermeister Christian Ude, der den Plänen des ZIE-M positiv gegenübersteht und diese Institution für die Muslime in München zu einem repräsentativen Ort – ähnlich dem Jüdischen Zentrum am St.-Jakobs-Platz – machen möchte, gibt dem Buch ein Geleitwort mit auf den Weg.

Der Preis des Bandes ist für das, was er in Wort und Bild bietet, überraschend moderat. Ein Grund könnte sein, dass ein bedeutender Unternehmer aus Abu Dhabi das Projekt mit einer großzügigen Spende unterstützt hat. (WJP)

MUC_Titel
München und der Orient

Stefan Jakob Wimmer: München und der Orient mit Fotografien von Ergün Çevik und einem Geleitwort von Christian Ude, herausgegeben vom Zentrum für Islam in Europa – München (ZIE-M)

Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg im Allgäu 2012, 232 S., viele hundert meist farbige Abbildungen, illustrierter Pappband, Fadenheftung. ISBN 978-3-89870-774-9. 24 €.

1) EOTHEN IV (2007), S. 392 ff. Eva-Maria Troelenberg, Orientalismen im Königreich Bayern. Islamisierende Architektur bei König Ludwig II.; EOTHEN V (2012), S. 12 ff. Heribert Busse,  Der Felsendom und die Grabeskirche in Jerusalem. Verwandtschaft und Rivalität der beiden Heiligtümer; siehe auch: Die Türkei in Europa. Beiträge zum IV. Internationalen Südosteuropa-Kongreß (1979), S. 45 ff. Marcell Restle, Türkische Elemente in der bayerischen Architektur des 18. und 19. Jahrhunderts, (Marcell Restle ist Ehrenmitglied unserer Gesellschaft).

2) Stefan Jakob Wimmer, geb.1963 in München, Promotion (PhD) in Ägyptologie an der Hebräischen Universität Jerusalem, zahlreiche Grabungen in Israel/Palästina, Ägypten, Jordanien, Griechenland, seit 1998/99 an der Kulturwissenschaftlichen und an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München, 2008 Habilitation, Privatdozent am Institut für Ägyptologie und Koptologie der LMU, seit 2011 an der Bayerischen Staatsbibliothek, Orientabteilung, Fachreferent für Hebraica und Alter Orient; 2001 Gründung und Zweiter Vorsitzender der Gesellschaft Freunde Abrahams e.V. zum interreligiösen Dialog auf wissenschaftlicher Grundlage; seit seiner Gründung (12/09) Erster stv. Vorsitzender des Zentrum für Islam in Europa – München (ZIE-M) e.V.

Auswahl Publikationen: Islam mit europäischem Gesicht. Perspektiven und Impulse zusammen mit Benjamin Idriz und Stephan Leimgruber, Kevelaer 2010; Historisches Textbuch zum Alten Testament von Manfred Weippert mit Beiträgen von Joachim Friedrich Quack, Bernd Ulrich Schipper und Stefan Jakob Wimmer, Göttingen 2010; Münchner Abrahams-Geschichten, Festgabe der Freunde Abrahams zum 850. Stadtgeburtstag, München 2008; Abu Safíja, Maria, woher hast Du das? Frauengestalten im Koran, München 2008; Palästinisches Hieratisch. Die Zahl- und Sonderzeichen in der althebräischen Schrift, Ägypten und Altes Testament 75, Wiesbaden 2008 (Habilitation); Von Adam bis Muhammad – Bibel und Koran im Vergleich, zusammen mit Stephan Leimgruber, München/ Stuttgart 2005, 2. Auflage 2007; Die jiddischen Drucke der Bayerischen Staatsbibliothek. Alphabetischer Katalog mit einem Verfasserregister in hebräischer Schrift, München 2004 (erstellt von I. Klayman-Cohen und Stefan Wimmer); A. Strobel/S. Wimmer, Kallirrhoe (‚En ez-Zara). Dritte Grabungskampagne des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes und Exkursionen in Süd-Peräa, Abhandlungen des Deutschen Palästina-Vereins 32, Wiesbaden 2003; Hieratische Paläographie der nicht-literarischen Ostraka der 19. und 20. Dynastie, Ägypten und Altes Testament 28, 2 Bde., Wiesbaden 1995 (Dissertation).