Geschichte al-Qaidas. Rezension von Wolf Kunold

Artikel vom 11. September 2018

Der Beck-Verlag hat mit diesem Buch eine fachliche Lücke geschlossen. Die erste anspruchsvolle umfassende Abhandlung zu al-Qaida liegt hier vor. Bisher war der interessierte Leser auf Einzeldarstellungen und persönlich gefärbte Erlebnisberichte angewiesen. 

Behnam T. Said stellt in seinem Fachbuch umfassend und anschaulich Beginn sowie Entwicklung des Terror-Netzwerks al-Qaida bis in die Gegenwart dar. Mit dem Hinweis „Über eine terroristische Organisation zu schreiben, ist kein einfaches Unterfangen“ ist man im Vorwort eingestimmt, denn auch das Lesen bedarf hier der Sorgfalt und Konzentration.

Das Inhaltsverzeichnis gibt eine gute Übersicht, in der man sich leicht zurechtfindet. Es eignet sich durch Schlagwort-Unterpunkte mit Seitenangaben hervorragend für die Nacharbeitung und als Nachschlagewerk.

Das Abkürzungsverzeichnis und die angefügte Zeittafel erleichtern die Einordnung von Namen und das Verständnis für Entwicklung und Ablauf von wichtigen Ereignissen. Auf Grafik wird verzichtet, das könnte aber Übersicht und Einordnung erleichtern. Hervorzuheben sind abgewogene Schlussfolgerungen und Urteile, die man als außenstehender Beobachter nachvollziehen kann. Die aufgelisteten Videobotschaften im Anhang sind ohne Spezialkenntnisse nicht abzurufen.

Zunächst werden al-Zawahiri und bin-Laden in der Entwicklung zu Terroristen vorgestellt. Das geschieht in breitem Ansatz, man erlebt ein nachvollziehbar illustriertes Bild in Umfeld und Zielsetzung. Bin-Laden wird in seiner Persönlichkeit im Spannungsfeld zwischen saudischem Königshaus, eifernder Religiosität, mühsamer Logistik für Islamisten und kompromisslosem Terrorismus dargestellt. Von bin-Laden hätte man aber auch gern erfahren, ob er im Gefecht als Führer persönlich überzeugt hatte oder nicht, das bleibt offen, denn die Schlacht um Jajalabad wird lediglich als erfolglos beschrieben. Leider findet al-Zawahiris dreijährige Dienstzeit als Arzt in den ägyptischen Streitkräften keine Erwähnung. Das ist deshalb wichtig, weil dadurch der Bruch der Persönlichkeit zwischen Verpflichtung zur Humanität und killendem Terrorismus klarer werden kann.
Afghanistan (mit seinem Grenzbereich zu Pakistan) wird zutreffend als wichtiges Zentrum für Widerstand, Jihad, Islamismus und Drehscheibe der al-Qaida herausgestellt. Sicher war es in diesem Buch-Umfang nicht möglich, das Aufeinandertreffen von Taliban, al-Qaida und IS ausführlich zu beschreiben. Es bleibt zu hoffen, dass der Verfasser das mit dem gezeigten Sachverstand in einer gesonderten Bearbeitung nachreichen wird.

Der 11. September 2001 mit Khalid Sheik Muhammad wird in seinen Zusammenhängen anschaulich dargestellt – eine gute Zusammenfassung. Hilfreich wären hier ergänzende Hinweise auf Lücken, Schwachpunkte und Ansatzpunkte für Nachrichtendienste (ND) und Antiterror-Formationen gewesen; z.B. die Unzahl von NDs in den USA ohne genügende Koordinierung und mit hinderndem Kompetenzgerangel. Lehren daraus für NDs, Polizei und Streitkräfte sind gerade für Deutschland in der Terrorabwehr besonders wichtig.

Amerikas „War on Terror“ wird mit kritischen Augen beschrieben. Gut kommt die Entstehung der „Achse des Bösen“ heraus. Der Irak-Krieg hatte „Bodentruppen der USA in einem Kernland der arabischen Welt“; das konnte al-Qaida zur Bekämpfung des Islam ummünzen und daraus den Jihad propagandistisch rechtfertigen; der äußere Feind wurde so identifiziert. Die US-Drohneneinsätze und Spezialoperationen werden berechtigt als einschneidend beschrieben – die Frage der Rechtsstaatlichkeit aufgezeigt. Es ist gut, dass der Verfasser sich nicht zu eiferndem Urteil hinreißen lässt. Hingegen kommt die Problematik des Lagers in Guantanamo zu kurz, denn der rechtliche Status der dort Inhaftierten nach US Recht ist meist unbekannt. Das sollte bei einer Neuauflage nachgearbeitet werden, um den Leser hier genügend zur Frage Gewalt versus Menschlichkeit vor dem Hintergrund der eigenen Judikative zu einem Urteil zu befähigen.

Das Kommando-Unternehmen gegen bin-Laden wird kurz und zutreffend beschrieben. Es ist angenehm, dass der Verfasser sich jeder sensationellen Story-Berichterstattung enthält. Das spricht für seine Seriosität. „Bin-Laden war in der internationalen Jihad-Bewegung bereits zu Lebzeiten eine Legende. Nun wurde er zum mystischen Kristallisationspunkt, …“ ist die zutreffende Schlussfolgerung.

Im Folgenden stellt der Verfasser fest: „Al-Qaida erfindet sich neu“. Hier wird ein Umbruch aufgezeigt, der durch Querverbindungen berechtigterweise mehr Beachtung der Zentren auf der Arabischen Halbinsel, im Islamischen Maghreb und in Ostafrika fordert. Boko Haram in Nigeria und al-Shabab in Somalia sind in ihren Verbindungen eingearbeitet. Allerdings greift der Vergleich al-Shabab mit al-Qaida – gemessen an den Opferzahlen – zu kurz. Der Hinweis auf die verschiedenen Einflusszonen wäre in der Bedeutung überzeugender gewesen. Leider wird nicht darauf eingegangen, ob der Konflikt in West-Sahara mit al-Qaida in Verbindung zu setzen ist oder nicht. Auch wäre die besondere (gewesene?) Gefährlichkeit der al-Qaida auf der arabischen Halbinsel für Europa sicher wichtig – das fehlt.

Hilfreich ist die Darstellung, dass al-Qaida mit dem Beginn des Arabischen Frühlings nichts zu tun hat, sondern nur Nutznießer war. Das ist für Diskussionen und Einschätzungen wichtig.

Dankenswerterweise zeigt der Verfasser die weitere Entwicklung der Gruppierungen der al-Qaida weltweit – bis nach Indien und Indonesien auf. Sicher ist es nicht die Aufgabe dieser Erarbeitung eine Prognose zu stellen, aber es wäre hilfreich, einen möglichen strategischen Grundgedanken zu weiterem Ausmaß und möglichem Schwerpunkt vom Fachmann zu erfahren.

Irak und Syrien sind eigene Kapitel gewidmet. Die zentrale Figur al-Zarqawis ist dabei in der Bedeutung richtig herausgestellt. Die Einschätzung „Al-Zarqawis Anschläge ragten heraus aus dem Alltag des Krieges. Sie waren eine Inszenierung des Todes …“ zeigt das deutlich. Die Daten seines Lebenslaufs geben Aufschluss zu kompromissloser Brutalität und wohl eingeschränkter Intelligenz.

Die Hinweise auf die Rolle Pakistans sind wichtig. Auch das Spannungsfeld al-Qaida / Taliban / Pakistan wird richtig beleuchtet – immerhin befindet sich die Kern-al-Qaida noch immer im Grenzland Pakistan /Afghanistan. Da nimmt es nicht Wunder, dass auch der Kaschmir-Konflikt ins Interessen-Spektrum der al-Qaida reicht; darauf wird hingewiesen.

Auch das Verhältnis al-Qaida / Iran wird aufgearbeitet. Eine grundlegende Abhandlung, die in anderen Fach- / Sachbüchern kaum zu finden ist. Das Kapitel „Al-Qaida und Europa“ ist sicher von besonderem Interesse. Die Geschichte dazu ist kurz und klar zusammengefasst. Mit der Aussage „Gerade vielen Jungen Menschen bot der Jihadismus eine starke Identität“ erhält man den Ansatzpunkt für die oft allgemein benutzte Beschreibung der Selbst-Radikalisierung. Eine weiterführende (gesonderte) Erarbeitung dazu wäre wünschenswert.

Mit der Aussage: „Für Aiman al-Zawahiri, den derzeitigen Anführer der al-Qaida, nimmt Europa jedoch keine entscheidende Rolle ein“ (gemeint ist hier wohl als Angriffsziel) ist ein klarer aktueller strategischer Aspekt beschrieben. Es wäre weiterführend gewesen, hier das gedankliche Konzept ergänzend zu erfahren; vielleicht sind dazu aber die verfügbaren Fakten noch nicht klar genug. Der Schluss zeigt aber die Perspektive auf, in der die grundsätzliche Logik bin-Ladens beschrieben wird, „ … die USA in einen ewigen Kampf zu verwickeln, in dem die amerikanischen Ressourcen nach und nach aufgebraucht werden.“ Ergänzend dazu wird auf die grundsätzlichen Ziele der al-Qaida – Vernichtung Israels, Sturz der arabischen Herrscherhäuser und Errichtung eines Kalifats als Dach islamischer Staaten – unter der Bemerkung der Erfolglosigkeit hingewiesen. Das hätte an zentraler Stelle – eingehender erläutert – besser gepasst.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass das Buch ein abgewogenes und umfassendes Bild der Entwicklung der al-Qaida zeigt. Der Verfasser hat in nüchterner Argumentation und klarer verständlicher Sprache dieses Terrornetzwerk beschrieben und eingeordnet. Die Abhandlung als zusammenfassende Information ist sehr gut geeignet und kann auch als Grundlage für weitere Erarbeitungen zu Einzelaspekten dienen. Allerdings weckt der Teil-Untertitel   „ … und die tausend Fronten des Terrors heute“ Erwartungen, die in Länge und Gründlichkeit nicht erfüllt werden.

Man sollte das Buch sowohl Fachleuten wie auch allgemein Interessierten nachdrücklich empfehlen.

Behnam T. Said Geschichte al-Qaidas. Bin Laden, der 11. September und die tausend Fronten des
Terrors heute
Verlag C.H. Beck, München 2018, 239 S., Broschur, ISBN 978-3-406-72585-2, 14,95 €, als e-Book 11,99 €

Behnam T. Said: Dr. phil., Islamwissenschaftler, ist in der Justizbehörde Hamburg u.a. mit Extremismusprävention und Resozialisierung befasst. Zuvor war er beim Verfassungsschutz Hamburg tätig.

Wolf Kunold: Oberst a.D. – Verwendungen in der Truppe, im Generalstabs- und Militärattaché-Dienst; spezialisiert auf Führung, Operation und Militärischen Nachrichtendienst. Vortragstätigkeit zu sicherheitspolitischen Themen.