Arabische Frauen sind keine „armen Opfer“, sie sind nicht „passiv“ und „unterdrückt“. Sie kämpfen seit über 100 Jahren für ihre Rechte, so lange gibt es im arabischen Raum Frauenbewegungen. Bei uns werden diese Bemühungen zu wenig wahrgenommen. Der Blick auf arabische Frauen bleibt allzu oft stereotyp und blendet aus, was arabische Frauen bereits erreicht haben, welche Veränderungen es in der Region in den letzten Jahrzehnten gegeben hat und welche Themen sie selber setzen (das Kopftuch gehört nicht zu den prioritären Fragen). Es ist keine Frage: Benachteiligung ist real, es gibt rechtliche, soziale, gesellschaftliche Diskriminierung, kulturelle Hürden; es gibt Gewalt gegen Frauen und frauenfeindliche Einstellungen. In den Global Gender Gap Reports stehen arabische Länder regelmäßig im letzten Drittel des Feldes. Aber arabische Frauen haben durchaus Handlungsmacht in einem Umfeld, das viel Mut erfordert.
Historisch sind die Frauenbewegungen Anfang des 20. Jahrhunderts in den Zentren Kairo, Beirut, Damaskus und Bagdad entstanden. Erste Forderungen nach Zugang zu Bildung und Berufen, nach Verbesserungen im Familienrecht kamen auf, vor allem willkürliche Scheidungen und Polygamie waren Frauen ein Dorn im Auge. In den neuen Nationalstaaten nach 1945 gab es große Fortschritte, Frauen eroberten Schulen und Hochschulen, bekamen aktives und passives Wahlrecht, nahmen zunehmend am gesellschaftlichen Leben teil. Autoritäre Machthaber wie Gamal Abdel Nasser (Ägypten) und Habib Bourguiba (Tunesien) erließen Reformen von oben und grenzten gleichzeitig Frauenrechtlerinnen aus. Das ist zwiespältig, weil gesellschaftliche Diskussionen kaum möglich waren. Die Arabellionen nach 2011 waren wesentlich von Frauen getragen und geprägt, Figuren wie Asmaa Mahfouz und Tawakol Karman haben ikonischen Status erlangt. Unter den Protestierenden waren sehr viele Frauen vor allem in Kairo, die viel riskiert haben und unter sexualisierter Gewalt litten. Diese war zum Teil gezielt vom Regime eingesetzt worden.
Die Arabellionen sind politisch gescheitert, spiegeln aber einen gesellschaftlichen Wandel, der auch die Geschlechterrollen betrifft. Die Lebenswelten haben sich verändert:
Frauen haben sich den öffentlichen Raum in Politik, Wirtschaft, Kunst und Kultur erobert.
Das Ideal von Mann als Ernährer und Kopf der Familie stimmt nicht mehr. Immer mehr Alleinerziehende managen ihre Familien selbst. Arrangierte Ehen gehen zurück, es gibt mehr Selbstbestimmung in der Familie und bei der Partnerwahl, mehr Scheidungen eingereicht oftmals von Frauen, die aufgrund von mehr Bildung und Berufstätigkeit über ein eigenes Einkommen verfügen. Das Thema Sexualität bleibt jedoch noch mit starken Tabus behaftet, genauso wie reproduktive Rechte (Abtreibung) und die Rechte von LGBT sind noch Tabu-Thema. Gerechte Verteilung von Haus- und Erziehungsarbeit kommt als Thema in der jüngeren Generation. Gesetzliche Einschränkungen wie z.B. die männliche Vormundschaft bestehen jedoch in vielen
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Ländern weiter (außer Tunesien und Marokko). Der islamische Feminismus ist als neue Strömung seit den 1980er Jahren vor allem in Marokko, Tunesien und teilweise Ägypten stark. Mit einem neuen Selbstbewusstsein konfrontieren arabische Frauen westliche Feministinnen und suchen nach einem eigenen Weg ohne Bevormundung von außen.
Die Zukunft der Frauenrechte in der arabischen Welt ist ungewiss angesichts zahlreicher Krisen und Konflikte, massiver wirtschaftlicher Probleme und politischer Unsicherheit. All das verstärkt identitäre und rückwärtsgewandte Bewegungen. Gleichzeitig sehen wir enorme Bildungsfortschritte für Frauen und eine bessere Teilhabe in Wirtschaft und Politik, sogar in einem Land wie Saudi-Arabien. Fortschritte stehen neben Rückschlägen, Hoffnungen neben Enttäuschungen und Angst vor einem Backlash.
Buchvorstellung Claudia Mende, München: „Wir sind anders als ihr denkt – der arabische Feminismus“
Artikel vom 10. November 2025