Ibrahim Muhawi

Artikel vom 1. Dezember 2016 zuletzt aktualisiert am 7. Dezember 2016

Im Rundschreiben 6/04 kündigten wir die Feierliche Begrüßung des zweiten Allianz Gastprofessors für Islamische Studien an der LMU, Prof. Dr. Ibrahim Muhawi, durch den Rektor der Universität, Prof. Dr. Bernd Huber an.

Muhawi hielt am 29. November 2004 seine Antrittsvorlesung mit dem Titel Palestine and the Poetics of Exile worin er darlegte, dass Schriftsteller und Dichter, die gezwungen sind außerhalb ihrer Heimat zu leben, nicht nur den Local Angel_000010Verlust ihrer Heimat beklagen und die Lebensumstände in der Fremde eindringlich schildern, sondern auch ihren Schreibstil merklich ändern. Beim anschließenden Empfang im Senatssaal der LMU zeigte sich, dass die zum Verständnis des Vortrags notwendige Darstellung der politischen Verhältnisse, die zum Exil vieler Palestinenser führten, bei einigen Zuhörern offenbar erhebliche Irritationen ausgelöst hatte. Muhawi, der als Professor für Englische Litaeratur keineswegs eine politische Rede halten wollte, beraumte für einen der nächsten Tage eine Diskussionsrunde in der LMU an, um die Dinge zu klären. Bei dieser Gelegenheit zeigte er den von einem in New York lebenden jüdischen Filmemacher, Schriftsteller und Bildender Künstler, Udi Aloni, in Israel und Palestina gedrehten Dokumentarfilm (2004) über die damals (wie heute) völlig verfahrene Situaton in dieser Region.
Wir lernten damals einen überaus liebenswürdigen Gelehrten kennen, über den im genannten Rundschreiben u.a. zu lesen war: Professor Muhawi freut sich nicht nur über den regen Zuspruch, den seine Vorlesungen und Seminare bei ca. 30 Studenten finden, er und seine Gattin Jane – Bibliothekarin und waschechte Californian Lady – schätzen auch sehr das kulturelle Angebot der Landeshauptstadt an Ausstellungen, Museen und Konzerten. Daneben sind die begeisterten Wanderer im Münchner Umland unterwegs.
Der Münchner Merkur (Nr. 266/2004) hob in seinem ausführlichen Artikel unter der Überschrift Volksmärchen für kulturelles Verständnis Muhawis Hoffnung hervor, dass der Friedensprozeß im Nahen Osten wieder in Gang käme. „Keiner will den Frieden mehr als Palestina selbst. Ich will hier in München Botschafter meiner Heimat sein.“ Er wolle seinen Betrag dazu leisten, in dem er den Studierenden die arabische Literatur näher bringe. Intensiv habe sich Muhawi mit arabischen Volksmärchen beschäftigt. „Mich interessiert vor allem, wie in den Märchen mit der Sprache umgegangen wird“. Für ihn sei das Verständnis der Sprache ein wichtiges Werkzeug für die Völkerverständigung.

Bücher von Ibrahim Muhawi in einem Schaukasten der American Academy of Arts and Letters (AAAL), New York mit Büchern von Ibrahim Muhawi aus Anlass der Preisverlehung
Bücher von Ibrahim Muhawi in einem Schaukasten der American Academy of Arts and Letters (AAAL), New York mit Büchern von Ibrahim Muhawi aus Anlass der Preisverlehung

Der Kontakt zu dem Sprachforscher ist in den vergangenen Jahren nicht abgebrochen. Immer wieder schickte Muhawi Zeugnisse seiner wissenschaftlichen Arbeiten, insbesondere auch zu den Erzählungen aus Tausendundeine Nacht, nach München.
Den Vortrag Das Andere im Text. Reflexionen über Literarisches Übersetzen aus dem Arabischen, den er 2010 bei dem Symposium aller bis dahin in München lehrenden jüdischen und islamischen Gastprofessoren hielt, finden Sie in EOTHEN VI, S. 125 f., sein CV auf Seite 372.
Über die Verleihung des Übersetzerpreises des US PEN Zentrums finden Sie einen Bericht in dieser Website.
Nachdem Ibrahim Muhawi im Jahre 2011 bereits den Übersetzer-Preis erhalten hatte, wurde ihm im Frühjahr 2015 eine mit 10 000 $ dotierte hohe Auszeichnung der Amerikanischen Akademie für Kunst und Literatur in New York www.artsandletters.org/ verliehen; die Jury begründete die Verleihung so: „For outstanding achievement in literature in any genre“.

In dem Buch Being Palestinian. Personal Reflections on Palestinian Identity in the Diaspora, dessen kurze Beschreibung Sie unter Buchtipps in dieser Website finden, reflektiert Muhawi unter 102 Männern und Frauen, die den gleichen Leidensweg gehen müssen, die Gefühle eines Vertriebenen. Damit werden die Erinnerung an seine Zeit in München und den Tag der Antrittsvorlesung wieder unmittelbar lebendig. Wir erfahren in seinem Beitrag aber auch ein wenig über seine Kindheit und Jugend in der ursprünglichen Heimat; heute lebt Muhawi mit seiner Frau in Oregon.
Wir bringen in Abstimmung mit dem Autor den Artikel in der Übersetzung unserer Schatzmeisterin Eva Schätz, die ihre Ausbildung in Angewandter Sprachwissenschaft im SDI München und SOAS London abschloß.

Ibrahim Muhawi
Ibrahim Muhawi promovierte 1969 an der University of California (Davis) in EnglischerMuhawi Portrait_000011 Literatur. Ab 1989 verlagerte sich das Hauptaugenmerk seiner Arbeit nach und nach immer mehr in Richtung Übersetzungswissenschaften, Arabische Folklore und die Folklore Palästinas. Im Studienjahr 2004/2005 wurde er als Allianz Gastprofessor für Islamische Studien an die Ludwig-Maximilians-Universität München berufen. 2005 hat Professor Dr. Ibrahim Muhawi sich dann aus seiner Lehrtätigkeit zurückgezogen, bleibt aber weiterhin in der Wissenschaft und als Übersetzer aktiv.

Petersilie, Miryamiyah, Rosmarin und Za’tar ¹)
Ich wurde im Jahre 1937 geboren, und somit mitten hinein in den historischen Kontext des Arabischen Aufstands und am Scheitelpunkt großer geschichtsträchtiger Umwälzungen. Deren Vorboten, die Unheil verheißenden Teilungspläne, sollten sich, gleich weltlichen Prophezeiungen, ja alle bewahrheiten. Da meine Geburt in die Zeit des Mandats fiel, wurde meine Geburtsurkunde in drei Sprachen ausgefertigt. Für mich ein Vorbote meines vielsprachigen Lebens als Übersetzer, Volkskundler und Literaturwissenschaftler. Ich sehe darin auch eine historische Bedeutung, und es macht in gewisser Weise hoffnungsfroh für die Zukunft des Landes, da Geschichte sich ja wiederholt, für eine Zeit nachdem all die weiteren unausweichlichen Veränderungen stattgefunden haben werden.

Meine erste Identität ist von meinem Geburtsort Ramallah definiert. Das Gedicht „anā min hunāk“ (‚Von dort komme ich‘) von Mahmoud Darwish hallt in allen Palästinensern wieder, die außerhalb der Heimat leben. Dort, in Ramallah, habe ich die milde Mittelmeerluft geatmet und im Frühling in den mit Felsbrocken übersäten Hügeln herumgestreunt, rotgefärbt von blühenden Windröschen und grüngefärbt vom Thymian. Dort war ich Teil einer Gemeinschaft, die nahtlos war und jeder irgendwie mit jedem verwandt, direkt oder indirekt. Dort habe ich die Palästinensische Küche genossen, die meine Mutter so perfekt beherrschte – eine Küche, die wir alle (sowohl Männer als auch Frauen) mit uns nehmen, wohin immer wir gehen, und die wir für unseren Freundes- und Bekanntenkreis zubereiten. Dort habe ich an Volksfesten und Hochzeiten teilgenommen, mit nächtelangem dabke und Gesang unter den Bäumen (ich konnte damals noch nicht wissen, dass dieses Erleben in der Gemeinschaft prägend für eine lebenslange Befassung mit der Kultur Palästinas sein würde). Dort habe ich als Schulkind die Volks- und Jugendlieder mawṭinī (‚Mein Heimatland‘) und naḥnu al-shabāb (‚Wir sind die neue Generation‘) gesungen. Und von dort bin ich als Zehnjähriger mit dem Bus nach Jerusalem gefahren, neben meinem Vater stehend, einem Busfahrer auf dieser Linie. Meine ersten Erinnerungen und Eindrücke von Jerusalem und der Landschaft Palästinas jenseits Ramallahs stammen von diesen Busfahrten. Ganz besonders die an die Menschen beim Erreichen des Endes der Fahrt gleich hinter dem Notre Dame Hostel im Musrara-Viertel — einem Jüdisch-Arabisch gemischten Viertel — Menschen, die so ganz anders waren als in Ramallah, über Sprache und Kleidung hinaus, in der Art und Weise wie sie aussahen. Ein ganz besonderer Hochgenuss am Ende der Fahrt war das ka‘k u-beiḍ, ein kleines Brot mit einer Sesamkruste und einem Loch in der Mitte, so ähnlich wie bei einem Donut, und ofengebackene Eier mit Salz und za’tar (das nun überall so bekannt geworden ist, dass es keiner weiteren Erklärung mehr bedarf). Das ka’k in Jerusalem war einfach unvergleichlich.

Meine Kindheit bestand jedoch nicht nur aus Genüssen wie dem ka‘k u-beiḍ. Immer waren auch die Ereignisse von 1948, mehr oder weniger, präsent. Nicht nur der Verlust eines Landes, der uns Momenten zwischen Schlaf und Erwachen heimsucht, sondern auch unverdrängbare persönliche Erlebnisse, wie der Strom der hungrigen und schmutzigen Menschen nach ihrer Vertreibung aus Ramla und Lydda (dem ersten Heimatort von St. Georg). Männer, Frauen, Kinder, die in das Durcheinander in der Stadt hineinstolperten, um dem Grauen des Massakers in der Großen Moschee zu entrinnen, oder dem des von Terroristen auf das King David Hotel verübten Bombenschlags, von dem Charlie Moghannam (ein Angestellter der Mandatsverwaltung) nur noch im Sarg nach Hause zurückkehrte. Als wir noch in Ramallah lebten war da die Angst, dass die Familie die Lebensgrundlage verliert, sollte die Buslinie von Ramallah — Jerusalem eingestellt werden. Die Angst, dass Ramallah angegriffen werden könnte und die Vorbereitungen für eine Verteidigung am Stadtrand, die Angst, dass Ramallah fallen könnte, der eigentliche Angriff und in seiner Folge die 17 toten Soldaten, die Seite an Seite im Schulhof in einem Schuppen aufgebahrt waren, und später die Erleichterung der Menschen als offenbar wurde, dass der Angriff fehlgeschlagen war. Die(se meine) Geschichte hält mich immer noch gefangen, auch wenn Ramallah gefallen wäre, würde sie mich gefangen halten, auch wenn die Geschichte dann eine andere Richtung genommen hätte …

Titel der Paperbackausgabe
Titel der Paperbackausgabe

Durch den Verlust Palästinas 1948 wurden wir zu Jordaniern im Westjordanland. Und obwohl Palästina in unseren Herzen nie aufhörte zu existieren, war das Thema in unseren Gesprächen quasi tabu. Als ich 1954 die Heimat verließ, um in den USA Elektroingenieurswesen zu studieren trug ich einen Jordanischen Pass in meiner Tasche. Viele Jahre später, im Jahre 1975, als ich nach Jordanien zurückkehrte, um an der Universität von Jordanien Englische Literatur zu unterrichten fand ich heraus, dass wir ‚Belgier‘ ²) genannt wurden. Und noch viel später, als ich an der Universität von Edinburgh tätig war, erhielt ich einen Anruf von einem Englischen Freund, aus London, aus der Zeit als ich in Tunesien lehrte. Seine ersten Worte waren: ‘Willkommen daheim, Ibrahim!’. Während die Wärme und Herzlichkeit mich berührten, war ich doch auch amüsiert von der unfreiwilligen Ironie seiner Worte.

Nach der Eroberung des Rests des Landes 1967 wurde ich durch die Abriegelung der Grenzen für alle Palästinenser zu einem Vertriebenen. Ich hatte damals bereits die US-Amerikanische Staatsangehörigkeit, einen Postgraduiertenabschluss in Englischer Literatur und eine Stelle an einer Kanadischen Universität und, obwohl faktisch ein Vertriebener, fühlte ich mich nicht als solcher. Schonungslos offensichtlich manifestierte sich diese Tatsache jedoch in der Zeit von 1977-1980 als ich, obwohl der Fakultät für Englisch der Universität von Birzeit angehörig, das Land alle drei Monate verlassen musste, um mit einem Touristenvisum wieder zurückzukehren. Meine Anträge auf Familienzusammenführung, durch die ich mein Geburtsrecht wiedererlangen und im Land hätte bleiben können, stießen beim Israelischen Militärgouverneur auf taube Ohren. Offenbar war es mein Schicksal im Exil zu leben, als Teil einer den gesamten Globus umspannenden palästinensischen Diaspora.

Meine drei Jahre an der Birzeit-Universität bedeuteten eine Wiedergeburt auf einer höheren Ebene meiner Identifizierung mit Nation und Kultur. Es war mir zwar verwehrt, in Palästina zu leben, aber Palästina konnte ja in mir leben, egal wo ich mich befand. Und ich blieb von da ab immer auf Palästina fokussiert: seine Literatur, Kultur und Folklore. Ich hatte nie die Befürchtung, dass meine Lehrtätigkeit für Englische Literatur diese meine Identität gefährden würde: Bei aller Passion für das Thema findet es sich auch in meiner aktuellen Arbeit im Zusammenhang mit dem Kulturschaffen Palästinas wieder, der geschriebenen und mündlichen Literatur, unserem kollektiven Gedächtnis. Durch diese Arbeit wird die Schönheit und Tiefe der Kultur Palästinas transportiert, und zwar für jeden, der Englisch lesen kann. Unsere Geschichte und unser kollektives Gedächtnis sind so untrennbar miteinander verknüpft, dass der Verlust des einen auch zum Verlust des anderen führen muss. Palästina bestimmt unser Woher und auch unser Wohin.

¹)    Eine Bezugnahme auf die zweite Zeile der Englischen Volksballade ‘Scarborough Fair’ (der Jahrmarkt von Scarborough): ‚Petersilie, Salbei, Rosmarin, und Thymian‘.

 Gehst du auf den Markt von Scarborough,                    Are you going to Scarborough Fair
Petersilie, Salbei, Rosmarin und Thymian                       Parsley, Sage, Rosemary and Thyme
So grüße jemanden von mir, der dort lebt                     Remember me to someone who lives there
Sie war einst meine wahre Liebe …                                She once was a true love of mine

In der hügeligen Landschaft Palästinas sprießen im Frühling zahllose Kräuter und Wildblumen, einschließlich Rosmarin, Thymian (za’tar) und Salbei (miryamiyah – „das Kraut der Gottes­mut­ter Maria, Miryam im Dialekt Palästinas“). Man gibt Miriamiyah (Salvia Triloba) dem Tee bei und schreibt ihm Heilkraft zu. Laut dem Legendenschatz Palästinas ist die Pflanze gesegnet (mabruka): Während der Flucht nach Ägypten mit dem neugeborenen Jesus segnete laut der Legende Maria diese Pflanze, nachdem sie sich während einer Rast mit einem Zweig den Schweiß vom Gesicht abgewischt und dies als erfrischend empfunden hatte, und sagte zu ihr: „Seist Du ewiglich gesegnet.“ (Grace Crowfoot and Louise Baldensperger, From Cedar to Hyssop: A Study in the Folklore of Plants in Palestine. London: The Sheldon Press, 1932, page 79) Za’tar (Thymian) mit Olivenöl, als Dip zu Brot, gibt es nun auch in Europa und Nordamerika zu kaufen. Und Za’tar ist so sehr verbunden mit Palästina, dass der große Palästinensische Dichter Mahmoud Darwish ihn in seinem Gedicht „Ahmad al-Za’tar“ symbolhaft für den Widerstand verwendet.
²]     Um die Etymologie des Begriffs ranken sich diverse Legenden: dass die Palästinenser in Wahrheit eigentlich gar nicht aus der Region stammen, bejiki (‚Belgier‘) als Verballhornung von ‚Bolschewik‘, oder auch beljiki als Ableitung von der Wurzel BLJ, der Abkürzung von min barra la-juwwa (von außen nach innen).